Interview mit Claas Röhl über die Krankheit Neurofibromatose
Claas Röhl ist Obmann vom Verein NF Kinder und stand meinen Fragen zu der Krankheit Neurofibromatose und zu seinem Projekt Fit für Schule und Beruf trotz Neurofibromatose Rede und Antwort. Er hat selbst eine betroffene Tochter (7 Jahre) und ist über jede Unterstützung Neurofibromatose (NF) bekannter zu machen sehr, sehr froh.
Bis zu 80% der Kinder mit Neurofibromatose Typ 1 weisen Teilleistungsschwächen auf, die sich negativ auf die schulische Teilhabe auswirken können. Um Richtlinien für bestmögliche therapeutische Unterstützung von Kindern mit Neurofibromatose Typ 1 zu entwickeln, hat der Verein NF Kinder gemeinsam mit der medizinischen Universitätsklinik für Kinder und Jugendheilkunde ein dreijähriges Forschungsprojekt namens “Fit für Schule und Beruf mit Neurofibromatose” gestartet. Bitte helfen Sie mit Ihrer Spende mit, das Forschungsprojekt umzusetzen. Vielen herzlichen Dank für Ihre Spende und das Teilen dieses Interviews.
Was ist Neurofibromatose genau?
Neurofibromatose ist eine genetisch bedingte und derzeit unheilbare Tumorerkrankung. Die häufigste Form von Neurofibromatose ist Neurofibromatose Typ 1 oder kurz NF1. Das mutierte NF1 Gen kann das Protein namens Neurofibromin nicht korrekt herstellen. Dieses Protein spielt aber eine entscheidende Rolle bei der Kommunikation im Zellteilungsprozess. Es kann dazu führen, das nach der Zellteilung der „Schalter“ aufgedreht bleibt und sich Zellen immer weiter teilen und so können Tumoren entstehen. Diese Tumoren entstehen bei NF1 typischerweise überall an den Nerven im Körper und können dort großen Schaden anrichten, z.B. chronische Schmerzen, Funktionsausfälle, Lähmungserscheinungen und manchmal bedrohen sie auch lebenswichtige Organe. NF1 wird unter Betroffenen auch die Krankheit mit den tausend Gesichtern genannt: Denn neben den Tumoren kann auch noch eine unglaubliche Vielzahl von weiteren Symptomen auftreten.
Bis zu 80% der NF1 Patienten haben neurokognitive Einschränkungen, wie Lernschwierigkeiten, Aufmerksamkeitsdefizite, räumliche Wahrnehmungsstörungen, Konzentrationsdefizite, Autismus-Spektrum-Störungen u.v.m.
Jeder dritte NF1 Patient entwickelt orthopädische Probleme. Es können aber auch Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems einhergehen, wie Bluthochdruck, Epilepsie, erhöhtes Schlaganfallrisiko, und vieles mehr.
Wie beeinträchtigt die Erkrankung Kinder, die damit auf die Welt kommen?
Neurofibromatose verläuft individuell also sehr unterschiedlich. Es kann derzeit gar nicht vorhergesagt werden, wie der individuelle Verlauf beim einzelnen Betroffenen aussieht. Das macht Neurofibromatose auch zu einer enorm hohen Dauerbelastung. Manche Kinder kommen völlig unauffällig zur Welt. Etwa 98% entwickeln aber meist schon in den ersten Lebensmonaten die typischen Cafe au lait Flecken (hellbraune Pigmentflecken) auf der Haut. Hat ein Kind sechs oder mehr Cafe au lait Flecken mit einer bestimmten Größe, besteht bereits der dringende Verdacht, dass Neurofibromatose dahintersteckt.
Manche Kinder kommen bereits mit Knochenfehlbildungen oder großen plexiformen Neurofibromen zur Welt. Diese vergrößern sich meistens sehr rasch. Jedes fünfte Kind mit NF1 entwickelt bereits im Alter zwischen zwei und acht Lebensjahren Tumoren an den Sehnerven. Diese können zur Erblindung führen. Im Volksschulalter spielen Skoliosen mit teils sehr schweren Verläufen eine große Rolle bei NF1. Oft müssen diese Kinder aufwändige Operationen (Versteifungen der Wirbelsäule) mitmachen.
Aufklärung statt Tuscheln
Im Schulalter sind die häufigen neurokognitiven Defizite ein großes Problem. Ohne Diagnose werden die Kinder als faul und dumm abgestempelt und teilweise auf Sonderschulen abgeschoben. Und das, obwohl sie möglicherweise normal intelligent sind. Über 95% der Betroffenen entwickeln sogenannte dermale Neurofibrome. Dabei handelt es sich um gutartige Tumoren. Diese wachsen an den feinen Nerven der Haut. Sie können auf der Haut sitzen, und wie stielartige Warzen aussehen. Oder sie können unter der Haut sitzen und wie Beulen aussehen. Manche Betroffenen entwickeln nur einige wenige. Die meisten entwickeln aber sehr viele davon. Hunderte und manchmal sogar Tausende.
Typischerweise treten sie zuerst in der Pubertät auf, einem ohnehin sehr schwierigen Alter. Mit zunehmenden Alter werden diese Neurofibrome mehr und größer. Das kann zu einer vollständige Entstellung führen. Die soziale Interaktion wird enorm schwierig. Diskriminierung und Mobbing ist häufig die Folge. Wenn ein Kind ohne schwere Symptome das junge Erwachsenenalter erreicht, hat es gute Chancen auch im weiteren Leben einen milden Verlauf zu haben. Jeder zehnte Menschen mit Neurofibromatose entwickelt im Laufe seines Leben einen bösartigen Nervenscheidentumor. Wenn dieser dann nicht frühzeitig erkannt und entfernt wird, führt er meist in kurzer Zeit zum Tod.
Wie viele Menschen leiden in Österreich / Deutschland und weltweit an Neurofibromatose?
Es gibt kein nationales Patientenregister. Neueste epidemiologische Studien deuten darauf hin, dass NF1 noch häufiger ist, als bisher angenommen. Es wird von einer Inzidenz von etwa 1:2.000 gesprochen. Das bedeutet, dass in Österreich fast jede Woche ein von Neurofibromatose betroffenes Kind zur Welt kommt.
Im deutschen Sprachraum kommt sogar jeden Tag ein von Neurofibromatose betroffenes Kind zur Welt. In Österreich leben etwa 4.000 Familien mit NF. In Deutschland sind es etwa 50.000 Familien und weltweit etwa 2.000.000 (zwei Millionen!). Damit ist es eine der häufigsten unter den seltenen Erkrankungen und die häufigste neuro-kutane Erkrankung der Welt.
Unter welchen Umständen können erkrankte Kinder zur Schule gehen?
Prinzipiell möchten wir erreichen, dass Kinder mit Neurofibromatose gleich behandelt werden und nicht als Außenseiter. Ein Kind mit einem milden Verlauf kann alles mitmachen, was gesunde Kinder können. Bei Kindern, die orthopädische Probleme haben, motorische Schwierigkeiten oder einen schwachen Muskeltonus, braucht es natürlich spezielle Fördermaßnahmen. Ebenso gilt das, wenn bei den Kindern aufgrund der Sehnervtumoren eine Sehbehinderung vorliegt oder schwere neurokognitive Beeinträchtigungen.
Meine Tochter geht aber zum Beispiel ganz normal in die Schule, entwickelt sich derzeit sehr gut und ist gut in die Klassengemeinschaft integriert.
Wie gelingt es den Erkrankten dann später ein selbständiges Leben zu führen?
So wie der Krankheitsverlauf individuell unterschiedlich ist, so ist auch das spätere selbständige Leben entweder wenigen oder sehr großen Problemen ausgesetzt. Wir sind aber überzeugt, dass eine frühe Diagnose und eine dementsprechend zielgerichtete Förderung es den Kindern ermöglicht, ihre Schwächen durch ihre Stärken und Ressourcen bestmöglich zu kompensieren. So gelingt es ihnen auch, ihr Potential optimal ausschöpfen zu können.
Das Vorurteil, dass Menschen mit NF wenig intelligent sind und keine anspruchsvollen Tätigkeiten ausüben können, ist eigentlich seit längerer Zeit überholt. Es sitzt aber leider immer noch in den Köpfen, auch in denen vieler Ärzte, fest. Wir kennen selbst aber genügend Menschen mit NF, die ein Hochschulstudium abgeschlossen haben. Die größere Herausforderung stellt dar, den sozialen Anschluss zu behalten. Vor allem gilt das für jene Menschen, die äußerlich sichtbar von der Erkrankung gezeichnet sind.
Wie verlief die Spendenaktion für “Fit für Schule und Beruf trotz Neurofibromatose”?
Wir haben insgesamt (durch private Spender, aber auch unseren Sponsor Casino Austria AG, die 20.000 Euro zu dem Projekt Fit für Schule und Beruf trotz Neurofibromatose beigesteuert haben), über 40.000 Euro für dieses Projekt aufstellen können. Damit haben wir mehr als zwei Drittel des Mindestbedarfes dieses dreijährigen Projektes finanziert. Das Projekt konnte Anfang diesen Jahres (2016) mit den vorbereitenden Arbeiten starten. Wir brauchen aber noch weitere Spenden, um das Projekt auszufinanzieren.
Was bewirkt denn Ihr Projekt Fit für Schule und Beruf trotz Neurofibromatose konkret?
Wie vorher angesprochen haben bis zu 80% der Menschen mit NF1 neurokognitive Beeinträchtigungen, welche die schulische Teilhabe erschweren können. In diesem Projekt machen wir mit Vorschulkindern und Schulkindern mit NF1 entwicklungspsychologische Diagnostiken. So wird deutlich, welche Teilleistungsdefizite vorhanden sind. Wir vergleichen diese auch mit den medizinischen Daten, um zu sehen, ob es hier Korrelationen gibt.
Am Ende dieser dreijährigen Studie werden wir Leitlinien entwickeln können. Diese geben den behandelnden Psychologen genaue Auskunft, bei welchen Teilleistungsschwächen, welche Therapieform am Besten wirkt. Dabei handelt es sich um keine medikamentösen Therapien, sondern um neuropsychologische Trainings.
Wir werden außerdem Broschüren entwickeln, die auch Eltern und Pädagogen aufklären, wie sie ihr Kind bestmöglich unterstützen können. Unser Ziel ist, dass wir mit dieser Arbeit die Qualität der psychologischen Betreuung von Kindern mit NF1 deutlich verbessern. Das Projekt Fit für Schule und Beruf trotz Neurofibromatose haben wir auch in mehreren Videos vorgestellt. Diese finden Sie auf unserer Seite NF Kinder. (Sihe Link ganz oben und am Ende des Artikels).
Spenden und informieren
Herzlichen Dank, lieber Claas Röhl für das Interview. Dieser Artikel ist im Rahmen des ersten Karmakalenders 2016, dem nachhaltigen Adventskalender auf Mamirocks, 2016 zum Thema Hilfsprojekte und ehrenamtliches Engagement erschienen. Wie wichtig ist Information, damit das Leid aller Betroffenen und vor allem der Erkrankten Kinder gelindert wird. Doch natürlich hilft Informationa allein nicht, den die Finanzierung solcher ambitionierter Projekte liegt oft in den Händen engagierter Privatpersonen.
Hier finden interessierte Leser weiteres Informationsmaterial zum Download über das Projekt Fit für Schule und Beruf trotz Neurofibromatose und die Krankheit Neurofibromatose selbst. Und hier geht es direkt zur Spendenseite. Auch ein kleinerer Beitrag ist der Rede wert und hilft mit, die gute Sache weiterhin zu fördern und zu untersützen.
Lesen Sie hier über das Engagement einer betroffenen Mutter für Tay-Sachs.
Liebe Sandra. Hier handelt es sich um einen Gastartikel. Ich würde auf alle Fälle versuchen, ein Attest zu bekommen. Alles Gute, Verena
Vielen Dank für die ausführliche Beschreibung. Mein Sohn und ich tragen das gleiche Schicksal. Beide haben NF1 mit bisher ähnlichen Problemen. Schule, Belastbarkeit, ADS. Bisher habe ich 6 Stunden gearbeitet. Nun soll ich 8h arbeiten in einer Kita. An Pause war bisher nie zu denken. Ich habe große Sorge alles zu schaffen. Arbeitszeit 8 h, 2 Kinder (eins mit LRS, Dyskalkulie und ADS), und dann das tägliche Leben. Kann ich irgendwie durch Attest vom Arzt auf 6 Stunden bleiben oder muss ich eine Dienstanweisung hinnehmen?
Vielen Dank für die Unterstützung und deinen Beitrag Neurofibromatose aus seinem Schattendasein zu holen und ins Licht zu stellen.