Stadtkind verliert Herz an die Berge

Stadtkind

 

Stadt oder Land? Gute Frage für ein Stadtkind, das es in die Provinz verschlagen hat, Ilona und danke für Deine Blogparade vom Blog Wandernd
Eindeutige Antwort: Urbane Seelen tun sich auf dem Land schwer. Nun lebe ich aber nun mal auf dem Land, aus freien Stücken und richtig gern. Denn ich habe keinen Abgasmief, stehe nicht dauernd im Stau – zumindest galt dies, bevor der deutsche Staat die Grenzkontrollen wieder einführte! – und muss nicht ständig mit wildfremden Menschen in der U-Bahn dicht an dicht stehen. München ist in dieser Hinsicht ja harmlos, es ist für mich nach wie vor, auch wenn es jetzt die 1,5-Millionen-Marke geknackt hat, eine propere, saubere und überschaubare Stadt. Das urbane Chaos hält sich in Grenzen. Wenn man wie ich ein Jahrzehnt – die wilden Neunziger – in Rom verbracht hat, tut man sich wirklich schwer, München als eine Großstadt zu bezeichnen. Allerdings gibt es Städte in dieser Größenordnung die absolute Weltstädte sind. Ich denke da an Wien oder auch Hamburg. Das tolle an Städten ist für mich ihre Verschiedenheit, ihre Vielfalt und ihr Facettenreichtum. Wie schön es ist, sich in einer (noch) fremden Stadt in einen Linienbus zu fahren und durch die Vorstädte zu fahren. Welch Privileg an Orte zu gelangen, an denen die Menschen einer Stadt und nicht die Touristen anzutreffen sind. Auf diesem Wege durchfuhr ich etwa 2002 die ghettoartigen Randbezirke Lissabons. So konnte ich mir ein wirkliches Bild der Lebenssituation vieler aus den ehemaligen Kolonien stammenden Menschen machen und verstand viel besser die Schere zwischen Weiß und Schwarz, Arm und Reich in dieser Gesellschaft.

Stadtkind liebt Subkultur

Großstädte sind für mich dreckig, laut und ständig im Wandel. An jeder Ecke entdeckst Du Neues, schnupperst Gründergeist und lauschst dem Puls der Zeit. Wo du abends in einem hippen Restaurant speist, entpuppt es sich morgen als Eintagsfliege, wo heute Nacht eine Pop-Up-Party steigt, reißen morgen Bagger ein Gebäude ab. Urbanität ist Kurzlebigkeit und Impulskultur! Meist empfinde ich Stadt als inspirierend, in der Zeit bevor das Stadtkind aufs Land flüchtete, fühlte ich mich allerdings nurmehr überreizt vom dauernden Überangebot. Seit ich auf dem Land Leben kann ich Städte wieder voll genießen.
Ja, ich bin ein Stadtkind und ich bin dem Reiz des urbanen Lebens hoffnungslos erlegen. Alle drei Monate fahre ich in mein gutes altes München. Gerade jetzt ist es wieder soweit. Letzte Woche war ich schon da. Nach einem Geschäftsessen im Hofbräuhaus konnte ich es mir nicht verkneifen, im Feierwerk beim Riderssound vorbeizuschauen. Ja, auch in München gibt es Subkultur. Manchmal muss man sie bloß ein wenig suchen. Dort habe ich alte Freunde getroffen, endlich mal wieder portugiesisch gesprochen und richtig hemmungslos getanzt. Nach Mitternacht war die Location dann plötzlich voll mit iranischen und syrischen Jugendlichen, die vor Freude im Ragga-Rythmus hüpften. Seht ihr, das meine ich mit am Puls der Zeit. Als Stadtkind weißt du, was abgeht – im Guten und im Schlechten.

Stadtkind liebt die Natur

Wo ich jetzt wohne, siehst du höchstens einmal in der Woche mal ein paar Flüchtlinge, wenn Du mal den Zug nimmst oder an den Zelten nahe dem Bahnhof Kufstein vorbeifährst. Unser Bürgermeister hat es bisher geschafft, sich standhaft zu weigern, Flüchtlinge aufzunehmen. Was sagst Du da? Du kannst Dir hier in der Provinz die Welt schön denken. Es kommt in Deine konstruierte heile Welt nur das rein, was Du akzeptierst, was Du gut findest – alles was Du ablehnst kann erstmal draußen bleiben. NAtürlich ist es für die Menschen, die so denken, umso unbequemer, wenn sie ihre Komfortzone verlassen.

Dennoch möchte ich nicht tauschen. Wir sind wegen der Kinder aufs Land gezogen, auch ein paar mal umgezogen, denn in unbekannten Gefilden ist es nicht so leicht, den richtigen Platz zu finden. Jetzt scheinen wir ihn zu haben und nehmen es gern in Kauf wieder bei Null anzufangen und uns ein neues soziales Netz aufzubauen. Das ist es Wert finden wir, denn unsere Kinder können so aufwachsen, wie wir selbst aufgewachsen sind. Kinder haben viel mehr Freiheiten auf dem Land. Sie können sich freier bewegen, lernen schnell Selbständigkeit, gehen etwa allein zum Radfahren raus oder klingeln bei den Nachbarskindern. Auch der Schulweg ist schon bald allein machbar. Hier gehen selbst die meisten Erstklässler zu Fuß. Jedesmal wenn ich sie mittags trödeln oder mit geheimnisvoller Miene in Grüppchen zusammenstehen sehe, weiß ich wieder warum ich aufs Land gezogen bin.

Da ich selbst in einem kleinen bayerischen Kaff aufgewachsen bin, weiß ich gut, was es heißt ein Zuagroaster (Zugezogener) zu sein. Aber ich bin da ziemlich autark und unser jetziges Dorf ist in dieser Beziehung auch viel offener als manch anderes, in dem ich bereits Station gemacht habe.

Außerdem gefällt es mir hier, weil die Berge mich erden. Wenn ich von meinen München-Wochen heimfahre und die Berge immer näher kommen, die nackten schroffen Felswände, wie sie hier bei uns so charakteristisch sind, dann freut das Stadtkind sich, dass es nach den vielen urbanen Impulsen wieder zur Ruhe kommen darf. Hier fällt einfach der ständige Druck weg, immer alles mitnehmen zu müssen. Und wenn ich wieder auf den zwei “Brettln” stehe und versuche meinen Schuss fahrenden Kindern hinterher zu kommen, und der Schnee so glitzert, finde ich die Bergwelt mindestens so lebenswert wie an einem Nachmittag am Meer – meine andere große Leidenschaft.

Hach, Stadtkind hat viele Leidenschaften. Bejinhos, Küsschen, Bacetto!

 

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