Sexualität und Gewalt in der Familie sind Tabuthemen. Worüber unsere Großmütter nicht sprachen, bleibt auch heute meist ungesagt. Doch wie wirkt sich sexualisierte Gewalt ohne die Möglichkeit einer Aufarbeitung auf Familien aus?
Text: Verena Wagner
Wenn die Worte zum Reden fehlen.
Im Wohn- und Pflegeheim St. Sisinius in Laas im Vinschgau sind heute nur Frauen zusammengekommen. Die Rentnerinnen, die im Stuhlkreis sitzen, sind zwischen siebzig und neunzig Jahren alt. „Wie war es in der Nachkriegszeit frisch verheiratet zu sein, eine junge Mutter?“, will Andrea Fleckinger von den Zeitzeuginnen wissen. „Die meisten Frauen waren damals überhaupt nicht aufgeklärt, als sie um die zwanzig heirateten, genauso wenig waren es die jungen Männer“, erinnert sich eine elegante Dame. „Liebesheiraten, oh ja, die gab es. Aber praktisch ohne Vorwissen über Sexualität, Kinderkriegen und Lust waren viele Paare einem schrecklichen Druck ausgesetzt“, sagt ihre Sitznachbarin.
„Die Erinnerungsrunden sind wichtig, um die Erlebnisse unserer Studienteilnehmerinnen in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext einzuordnen“, erklärt Andrea Fleckinger. Die Wissenschafterin arbeitet an der Universität Trient und leitet die generationsübergreifende Südtiroler Studie Traces (TRAnsgenerational ConsEquences of Sexual violence), die mehr über die Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt herausfinden will. Dafür wird das Schweigen in der Öffentlichkeit thematisiert und gemeinsam mit betroffenen Frauen im Vinschgau beleuchtet, welche Möglichkeiten zur Aufarbeitung für sie wichtig sind.
Ins Reden kommen. Das Schweigen über sexualisierte Gewalt
Vor ihrer Rückkehr an die Universität hat die zweifache Mutter dreizehn Jahre lang als Sozialarbeiterin im Frauenhaus von Brixen gearbeitet. Unter sexualisierter Gewalt versteht das Team der Studie Traces jede Form von Übergriff, den eine Frau erlebt, sobald sie nicht mehr selbst über ihren Körper und ihre Sexualität bestimmen kann. Zur damaligen Zeit gingen Übergriffe auch, wie aus den Gesprächen hervorging, von der katholischen Kirche aus. Wenn etwa der Pfarrer kontrollieren kam, ob die Ehe vollzogen sei, wenn die Frau nicht schwanger wurde.
Über 30 Frauen, die selbst oder deren Mütter, Tanten oder Großmütter sexualisierte Gewalt erfahren haben, wurden bereits interviewt.
„Mit mehr Ressourcen hätten wir Traces gerne in ganz Südtirol aufgerollt. Sexualisierte Gewalt ist leider überall ein Thema“, sagt Fleckinger. „Durch die Erzählungen meiner Vinschger Großmutter lag das Vinschgau für mich nahe. Ohne die Region stigmatisieren zu wollen“, fügt Monika Hauser hinzu. Die Gynäkologin, Feministin und Frauenrechtsaktivistin gründete 1993 in Köln medica mondiale. Ihr Ziel: kriegstraumatisierten Frauen medizinische und psychologische Hilfe zu leisten. Dies geschah, nachdem sie in Bosnien mit lokalen Fachfrauen mitten im Krieg ein Frauentherapiezentrum in Zenica aufgebaut hat. Für ihr Engagement wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2008 mit dem Alternativen Nobelpreis.
„Ich beschäftige mich seit über 30 Jahren weltweit mit sexualisierter Gewalt im Krieg und im Nachkriegskontext. Unsere Hypothese ist, dass es heute so viel Gewalt gibt, weil die sexualisierte Gewalt nie besprochen, nie aufgearbeitet wurde und bis heute nachwirkt. Nach den Weltkriegen wurden die Frauen allein gelassen – in Österreich, Italien und Deutschland“, erklärt sie.
Vom Privatem zum Politischen.
Angesichts des hohen Ausmaßes an Übergriffen auf Frauen und der steigenden Anzahl an Femiziden in ganz Europa, auch in Südtirol, gebar Hauser gemeinsam mit ihren Freundinnen Sigrid Prader vom Frauenmuseum Meran und Christa Ladurner vom Forum Prävention die Idee, in ihrer Heimat eine Studie zu transgenerationaler Traumatisierung durchzuführen. Für die Forschung wurde die Universität Trient mit Barbara Poggio und Andrea Fleckinger ins Boot geholt. Finanziert wird die Studie von der Autonomen Provinz Bozen und der Stiftung Südtiroler Sparkasse.
„Immer wieder erlebe ich, wie das Thema verdrängt wird – ohne die patriarchalen Strukturen dahinter zu erkennen. Diese bilden aber die Basis allen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Justiz, Polizei, Krankenhäuser sind hierarchisch patriarchal organisiert. Was das bedeutet? Es gibt viel Gewalt in ihnen und die passenden Strategien, sie zu vertuschen, zu verharmlosen, Täter zu entlasten und den Betroffenen die Schuld zu geben.“
Studie TRACES zu trangenerationalen Auswirkungen sexualisierter Gewalt
Die Studie beschränkt sich momentan auf Frauen, ihre Töchter und Enkelinnen. Das Team wurde im stress- und traumasensiblen STA-Ansatz geschult. Es verfügt zudem über Praxiserfahrung in der Beratung von Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. „Genauso wichtig wäre es, in einem nächsten Schritt die Söhne von Betroffenen sexualisierter Gewalt einzubeziehen. Wir hoffen, das Projekt nach den drei Jahren auszuweiten“, sagt Fleckinger. Weit über die Studie hinaus reicht das inkludierte Präventionskonzept: „Der Mehr-Ebenen-Ansatz von medica mondiale geht vom Individuum aus. Damit die Frau gestärkt ins Leben zurückkehren kann, muss das unmittelbare Umfeld verstehen, was passiert ist. Und warum sie alles dafür tun müssen, die Frau zu unterstützen, sie nicht erneut zu stigmatisieren und damit zu retraumatisieren“, erklärt Hauser.
Es brauche zudem die weiteren Ebenen der Institutionen wie Gesundheitssystem oder Justiz und ebenso die Politik. „In der in Österreich und Italien ratifizierten Istanbul Konvention – das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – ist verankert, dass patriarchale Strukturen eine Grundursache für sexualisierte Gewalt sind. Doch wo bleibt die praktische Umsetzung?“ Wie sehr das Thema nach wie vor tabu ist, zeigten die sehr unterschiedlichen Reaktionen bei Gemeinden und Vereinen. „Während niemand das Projekt ablehnte oder herunterspielte, war doch manchmal ein Ringen nach Worten zu bemerken“, berichtet Fleckinger.
Vererbtes Trauma?
Hauptziel sei gemeinsam mit den Betroffenen die Aufarbeitung anzustoßen und präventiv dem Kontinuum von Gewalt in Familien entgegenzuwirken. „Nicht aufgearbeitete Traumata können sich durch Familiensysteme ziehen und Spuren hinterlassen“, betont die Forschungsleiterin.
Deutlich wird das am Beispiel einer Studienteilnehmerin. Die Endzwanzigerin erzählt von ihrer Kindheit: Der Vater fügte ihrer Mutter physische und psychische Gewalt zu, vermutlich auch sexualisierte Gewalt. Die junge Frau beschreibt sich als äußerst vorsichtig im Umgang mit Männern. Selbst ihrem aktuellen Partner könne sie nie ganz vertrauen. Sie sei unsicher, ob er nicht auch irgendwann übergriffig werden könnte. Ihre Mutter habe sie schon im Mittelschulalter immer gewarnt, dass sie vorsichtig sein solle, sich nicht zu leicht zu bekleiden.
„Wir konnten auch mit der Mutter sprechen und erfuhren, wie wichtig ihr war, dass ihre Kinder sich wehren lernten“, so Fleckinger. Obwohl die Mutter die Tochter bewusst stärken wollte, wurde unbewusst eine gewisse Grundangst übertragen.Die Mutter erzählte wiederum von ihrer Kindheit, den Erinnerungen an sexuelle Übergriffe vom Vater, der die Mutter vor ihren Augen begrapscht habe.
Bei mehreren Teilnehmerinnen je eines Familiensystems würden Folgegenerationen erneut Gewalt erfahren. „Die Formen ändern sich – weg von kirchlichen Machtstrukturen hin zu sozialen Medien“, beobachtet sie. Interessant sei, dass vom Kontext her ähnliche Reaktionen kämen. „Nach wie vor erleben die Frauen Momente, in denen ihnen nicht geglaubt wird, sie die Verantwortung zugeschrieben bekommen für die Übergriffe.“ Eine weitere Langzeitfolge, die sich herauskristallisiere, seien Essstörungen.
Die Scham, die bleibt.
Hatten zwar alle Studienteilnehmerinnen bereits im Vorfeld einen Umgang mit ihren Gewalterfahrungen gefunden, zeigten die Gespräche, was passiert, wenn sexualisierte Gewalt in den Familien über längere Zeit verschwiegen oder bagatellisiert wird. Essenziell sei Unterstützung von außen, das Gefühl verstanden zu werden. Egal ob die Kommunikation mit einer Fachkraft oder dem eigenen Partner stattfand. Diese Tendenz lasse sich in der qualitativen Studie bereits beobachten. „So gut wie alle berichteten von Scham“, sagt Fleckinger. „Durch sexualisierte Gewalt wird der intimste Bereich einer Person verletzt. Erlebe ich das in einem Kontext, in dem ich riskiere bloßgestellt zu werden. Wenn ich darüber spreche, habe ich das verinnerlicht.“
Am Tabu hat sich gesellschaftlich bis heute nur wenig geändert – gerade gegenüber subtileren Formen sexualisierter Gewalt. „Die Erzählungen meiner Vinschger Großmutter über ihre Erlebnisse, die ich als junges Mädchen von ihr gehört habe, waren ausschlaggebend für meinen Weg“, sagt Hauser. Genauso bedeutend für die Lebenswege von Überlebenden sexualisierter Gewalt sei die Anerkennung des Durchlittenen. Und das Recht, darüber zu reden – in Kriegs- wie in Friedenszeiten. Durch das Öffnen der Schweigekultur soll ein Bewusstsein in der Gesellschaft entstehen, wie viel anhaltende Zerstörung sexualisierte Gewalt zur Folge hat.
Was bedeutet sexualisierte Gewalt?
Sexualisierte Gewalt kann viele Gesichter haben. Gemeint ist nicht nur Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Das ganze Spektrum von scheinbar harmlosem Hinterherpfeifen bis hin zu Begrapschen, aufgezwungenen Berührungen, anzügliche, sexistische Bemerkungen und Kommentare ist gemeint. Dafür gibt es den Fachbegriff Cat Calling.
Jede Menge Nuancen von Übergriffen betreffen zudem die Social Media und Messengerdienste. Dazu gehört das unaufgeforderte Senden von DickPics (Penisbildern). Auch gegen den eigenen Willen Pornofilme anschauen zu müssen, weil der Freund das wünscht, ist sexualisierte Gewalt. Ebenso wie sexistische Äußerungen in den Kommentarspalten oder das Verlangen und Verbreiten von Nacktfotos über Social Media. Auch Mobbing kann Formen von sexualisierter Gewalt beinhalten.
Die Grenzen sind fließend. Aus vermeintlich harmlosen Formen entstehen gefährliche Übergriffe. Es ist wichtig, all die gewaltvollen frauenverachtenden und diskriminerenden Übergriffe und Aspekte unter einem Begriff zusammen zu fassen, um das Kontinuum der Gewalt im Blick zu haben. Dahinter steckt ein System.
(Der Text ist im November 2024 im 20er – Der Tiroler Straßenzeitung erschienen.)
Fachbücher zum Thema sexualisierte Gewalt
Wer sich näher mit dem Thema beschäftigen möchte, für die_den habe ich zwei Literaturtipps.
Im Herbst 2024 erschienen ist zur Metoo-debatte in Deutschland das überaus packende Fachbuch “Missbrauch, Macht & Medien” der Investigativ-Journalistin Juliane Löffler bei der Deutschen Verlagsanstalt (dva).
Sie erzählt derart spannend aus ihrem Arbeitsalltag als (Spiegel-)Journalistin in Deutschland – spannend wie ein guter Krimi. Das ist leider traurig, aber extrem gut zu lesen. Es bleibt Kopfschütteln angesichts der unsagbaren Zustände, die bis heute in der Medienwelt Frauen* das Berufsleben schwer machen.
Metoo in der Medienbranche
Da ich selbst Journalistin bin, konnte ich viele Sachverhalte gut nachvollziehen. Bin aber trotzdem entsetzt darüber wie in den großen Redaktionen nach wie vor das Patriarchat regiert. Richtig froh bin ich darüber, bei meiner weiblichen Vorgesetzten und in diversen und toleranten Redaktionen nie Erfahrungen sexualisierter Gewalt gemacht zu haben. Ich merke immer mehr, dass das eigentlich die Ausnahme ist. Obwohl in meinem Volontariat auch Gewalt durch Anbrüllen und Druckausüben an der Tagesordnung waren. So sehr, dass ich zweimal einen Hexenschuss bekommen habe, weil mein Körper rebellierte. Und seit vielen Jahren im Homeoffice bin ich natürlich noch einmal geschützter vor solchen Begegnungen.
Dieses Buch empfehle ich allen Journalist*innen und Menschen, die sich für dieses Berufsfeld und die Medienbranche interessieren. Es ist sehr lehrreich. Wir erfahren eine Menge über den Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt. Auch darüber wie Investigativ-Journalist*innen arbeiten und welche Möglichkeiten es gibt, sich selbst zu schützen, um all das Leid auszuhalten.
Wieviele Frauen* wohl schon sexualiserte Gewalt erfahren haben und nie darüber sprechen?
“Jede_ Frau. Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert” von Agota Lavoyer ist ein Buch gegen die Rape Culture. Agota Lavoyer ist Sozialarbeiterin in der Schweiz. Als Expertin für Opferberatung und sexualisierte Gewalt arbeitet sie als Beraterin, Referentin und Autorin für eine bessere Unterstützung von Opfern sexualisierter Gewalt und Prävention.
Was mir nach der Lektüre der beiden Bücher, die sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt auseinandersetzen, sofort auffiel, war die komplett andere Perspektive die Lavoyer als Sozialarbeiterin zum Thema einnimmt. Es ist eine viel unmittelbarere Perspektive als es die des Journalismus, der ÜBER ein Thema recherchiert, schreibt, reflektiert und der Öffentlichkeit zugänglich macht, sein kann. Ohne werten zu wollen. Beide Perspektiven sind gleich wichtig, geben aber einen ganz anderen Einblick in das Thema.
Der tägliche direkte Kontakt mit Opfern und das Vertrauen, das diese im persönlichen Gespräch entegenbringen, zeichnet dieses Buch aus. Diese Unmittelbarkeit ergänzen auch hier aufwendig recherchierte Fakten zu einem Thema, das monatlich neue Daten in Form neuer traumatischer Fälle und Opfer hinzubekommt. Zudem besteht die Schwierigkeit, dass so viele Opfer nicht wagen zu sprechen, so viele Übergriffe im Dunkeln bleiben.
Dazu kommen anonyme Erfahrungsberichte von Menschen, die Lavoyer erlaubt haben, über ihre Traumata und Missbrauchserfahrungen zu berichten. Ich möchte nun aus dem Vorwort des Sachbuches zitieren, da mich das sehr berührt hat:
“Auch ich habe lange Jahre geschwiegen. Weil ich all das, was ich erfahren habe, nicht schlimm genug, nicht relevant genug fand. Aber auch weil mir lange Zeit die Sprache dafür fehlte. Bis ich in meinen Zwanzigern allmählich verstand, dass das, was mir widerfahren ist, die Geschichte jeder_ Frau ist. Machte dieses Wissen die ERfahrungen erträglicher? Nein. Und irgendwie doch. … Ich war nicht falsch, auch nicht mein Aussehen, mein Verhalten oder mein Empfinden. Falsch waren diejenigen, die mir gegenüber übergriffig waren – und falsch ist das System, das dieses immense Ausmaß sexualisierter Gewalt produziert, zulässt und stützt.”
Agota Lavoyer: Jede_ Frau